Samstag, 30. Juli 2011

Sonntagssehnsucht


Das ist auch eine Geschichte von früher, (als ich noch geraucht hab) und so eine Sehnsucht nach dem Badengehen in der Kindheit hatte.

Die Küche geht nach hinten hinaus. Die erste Zigarette nach dem Frühstück zieht in die Lungen, und eine Sehnsucht vernebelt ihr den Kopf. Sie will etwas. – Ja, was denn? – Es wird wohl noch eine Tasse Kaffee sein. Sie füllt den Kessel mit Wasser und stellt ihn auf den Herd.
Die Hofgeräusche sind heute anders. Heute ist Sonntag, Sonntagmorgen. Die Männer sind daheim. Dunkel brummen ihre Stimmen, hell durchsetzt vom Chor der Frauen. Teelöffel klirren auf Untertassen. Ein Schnitzel wird geklopft, begleitet von Schneebesen und Rührgerät. Zu Vivaldi jagt eine kreischende Schwalbenhorde durchs Himmelsviereck, und Mozart spielt mit einem Telefon, das niemand abnimmt. Ein Mann lacht, und eine Frau auch.
Alle Tage hat sie im Griff, nur den Sonntag nicht. Der Sonntag soll von selber gehen, der Sonntag soll was Besonderes sein. Am Sonntag soll ihr etwas geschehen!
Das Kaffeewasser pfeift. Es ist heiß draußen. Der Duft der Spätlinden treibt herein. Ins Ungererbad mit dem Radl?
Anderer Leut schreihalsige Kinder, viel zu viele Menschen auf Badedecken und Campingliegen. Das Chlorwasser, schwappend und unruhig, Lärm und Eispapierl. Nein! Sie kennt etwas anderes, sie hat eine viel zu schöne Kindheit gehabt, was das Baden betrifft. Sie ist versaut für das Städtische Freibad.
Der vom ersten Stock visavis übt seine Bluesläufe auf der elektrischen Gitarre. Seit Jahren die gleichen.
Vor vielen, vielen Jahren fuhren an einem Sonntag im Sommer drei kleine Mädchen, sie, ihre Schwester und ihre Kusine, mit den Radln zum Dietlhofer See. Es war Mittag vorbei, die Oma hatte abgespült und der Opa sich mit der Zeitung in den Sessel verzogen. Die Radlreifen waren ihnen vom Onkel Fritz frisch aufgepumpt worden.
Der Weg staubte Felgen und Speichen ein, der Kies spritzte. Die Schwalben flogen ganz hoch droben. Blau und Rot, Wegwarte und Klatschmohn, säumten die Felder: Gerste mit den langen Grannen und Weizen mit den dicken Körner. Die Hitze flimmerte. Das letzte Stück ging’s bergab.
Dreißig Pfennig kostete es für Kinder, ohne Umkleidekabinen, deren Bretterfront silbergrau und mit Astlöchern zum Durchguckseln war. Dahinter wuchsen die Brennesseln, und es roch scharf. Die Mädchen zogen sich hinter den Weidenbüschen um, kichrig und schenant. Ihr Platz auf der Insel war noch frei! Sie lag zehn Schritt durchs wadeltiefe Wasser und hatte zwei Birken, und das Gras war gelb und zerlegen. Die Älteste band sich den Korkschwimmgürtel der Oma um.
„Ned spritzen, ja ned spritzen!“ Das Wasser war oben warm und hellblau mit gold und unten braun und manchmal eiskalt. Danach wickelten die Kinder, schnatternd und mit blauen Lippen, die Handtücher um die dürren Schultern gezogen, die Oma-Brotzeit aus dem Papier: ein Butterbrot und einen Apfel für eine jede. Die winzigen Fischerl, die Rotaugen, bekamen auch etwas. Nie schmeckte Butterbrot mit Apfel so gut wie nach dem Baden auf der Birkeninsel im Dietlhofer See. Schon damals nicht. Das Wassersonnengeglitzer war so stark, dass sie es nur mit zugezwickten Augen ansehen konnten.
Dann mussten sie hinüber ins Moor, obwohl es ihnen die Oma verboten hatte, weil es viel zu gefährlich war. Sie hörten die Buben schon von weitem. Der Boden wurde sumpfig, braunschillernd. Die Älteste sank beim nächsten Schritt bis zu den Kniescheiben ein. Panik riss ihr die Füße wieder hoch und klatschend warf sie sich auf den Bauch. Die anderern zwei taten’s ihr nach. Windend, wackelnd, zuckend und vor köstlicher Angst kreischend, schaukelten sie sich vorwärts auf dem schwappenden Boden. Moorbatzen flogen durch die Luft: Die Buben begrüßten die Mädchen. Es gab eine sauberne Moorschlacht. Dann fiel einem größeren Buben was Besonderes ein: zwei dicke Knödel nebeneinander geklatscht, mit dem Finger je ein Loch hineinegestoßen, ein runder Berg drunterhalb zusammengeschoben und mit der Handkante – eins, zwei, drei – ein Zeichen hineingehauen, und dann stürzte er sich schreiend mit einem Hechtsprung darauf und stöhnte und zuckte mit seinem Hintern. Die Mädchen mussten lachen, aber die Buben konnten nicht mehr aufhören. Mussten schreien und hechten und stöhnen. Da war’s nicht mehr lustig. Die Mädchen robbten zurück und staksten durch das waxe Schilf. Der Boden wurde wieder fest.
Auf einmal stachen die Bremsen, der Wald schaute schwarz her und die Berge waren viel zu nah. Die Sonne war weg. Da packten die Mädchen ihr Sach zusammen. Das erste Stück mussten sie die Radl bergauf schieben. Braun waren ihre Arme, aber eine Ganshaut stellte ihnen die blonden Härchen auf. Auf den Beinen blühten rot die Bremsen-Binkel. Ein paar Bäume standen auf dem weiten Feld.
„Linden sollst du finden, vor Eichen sollst du weichen!“, schrie die Älteste, als es blitzte und donnerte und losschüttete. Aber alle drei traten mit zusammengebissenen Zähnen in die Pedale und fuhren weiter. Fuhren heim, heim zur Oma, die die patschnassen Dreckfrösche auszog und mit einem Handtuch abrieb.
„Wart’s doch wieder im Moor, ihr Ludermadln!“
Ja, waren wir. Vor vielen, vielen Jahren an einem Sonntag in den Sommerferien.
Sie sitzt noch immer in der Küche, die nach hinten hinaus geht, trinkt ihren Kaffee, und der Dietlhofer See ist weit, weit weg. Viel weiter noch wie eine Insel mit Palmen im Pazifik oder wo.

Die „Sonntagssehnsucht wurde schon vor einiger Zeit von Michael Skasa in seiner Sendung „Sonntagsbeilage“ im BR veröffentlicht.
Ein Weiher in Gretlmühl bei Landshut im letzten Sommer

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